13. Etappe: Arzua - Santiago


Größere Kartenansicht

Pfingstsonntag den 23. Mai 2010 - 30 Kilometer

Ich stehe heute früh auf, weil ich in freudiger Erwartung auf Santiago bin. Es fehlen nur wenige Kilometer bis zum Ziel; die müssen aber nochmals verdient werden. Es geht tüchtig auf und ab bis man vom Monte de Gozo (Berg der Freude), dem Hausberg von Santiago, endlich die Türme der Kathedrale sieht. Hier auf den letzten Kilometern wird die Pilgerschaft aber definitiv zur Volkswanderung. Ganze Familien, Schulklassen und Vereine marschieren in aufgeräumter Stimmung und sauber gekleidet. Ein erster Zweifel kommt in mir auf, ob dieser Einzug in Satiago de Compostela für mich wirklich der langersehnte Höhepunkt der Reise wird. Meine Stimmung verschlechtert sich zunehmend. Gerade bei der Einfahrt auf den Praza do Obradoiro, an dessen Ostseite sich die Kathedrale befindet, erreicht meine Stimmung den absoluten Tiefpunkt. Hier herrschte eine ausgeprägte Jahrmarktstimmung, weil sich heute auch noch der Zieleinlauf eines Marathons hier befand. Es hätte wirklich wenig gefehlt, und ich wäre unverrichteter Dinge weitergefahren.

Nachdem ich mich in meiner grenzenlosen Enttäuschung so richtig gesuhlt habe, begebe ich mich dann doch zum "Oficina de Acogida al Peregrino" um meine Pilgerurkunde abzuholen. Aber auch diese löst keine Glücksgefühle in mir aus. Offenbar ist mir die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben! Eine ältere deutsche Pilgerin hat mich auf jeden Fall angesprochen und mir gesagt, dass es ihr gestern ähnlich gegangen sei. Ich solle doch bleiben und die Messe in der Kathedrale besuchen. Sie hat mir auch gesagt, dass es gegen Abend dann richtig schöne werde, wenn der ganze Massentourismus verschwunden sei. Also genehmige ich mir ein Bierchen und warte bis die Messe beginnt.

Der Besuch der Pfingstmesse hat mich dann wieder versöhnlicher gestimmt. Zuerst zieht eine Prozession durch die ganze Kathedrale. Einige Gehilfen tragen die Statue des heiligen Jakobusses mit sich. Voran schreiten Männer, die auf mir unbekannten Instrumenten, einen schaurigen Jammergesang intonieren; das trifft genau meine Stimmung. Und dann das Entzünden, des Botafumeiros, des Weihrauchfasses! Mit gewaltigem Sausen zischt das übergrosse Gefäss über den Köpfen der Pilger vorbei bis fast zur Decke der Kathedrale und dann wieder zurück auf die andere Seite. Eine dicke Weichrauchwolke zieht durch das Gotteshaus und benebelt die Sinne. Der mir von früher her so vertraute Ritus der katholischen Kirche gibt mir ein Gefühl des Angekommenseins. Obwohl ich schon seit Jahren offiziell nicht mehr dazu gehöre, kann ich mich dieser Magie nicht entziehen.

Am Ende der Messe lasse ich mich vom Strom der Pilger wieder auf den Vorplatz treiben. Ich hole mein Fahrrad ab, welches ich im Pilgerbüro deponiert habe und möchte mich jetzt um die Übernachtung kümmern. Und dann die grosse Überraschung des Tages! Wer kommt da mit seinem breitesten Grinsen im Gesicht auf mich zu gerannt? Marco einer der beiden Deutschen, denen ich auf dem Camino immer wieder mal begegnet bin. Sein Wegbegleiter, Simon, hat gerade bei der Zieleinfahrt schon wieder einen Plattfuss eingefangen. Er sagt mir, dass jeder den Empfang kriegt, den er verdient. Jetzt ist mein Tag auf jeden Fall gerettet. Ich schliesse mich den beiden an und gehe zu dem Hotel, dass sie gebucht haben.

Den Rest des Tages verbringe ich mit dem obligaten Pflichtprogramm. Umarmen der Jakobsstatue auf dem Hochaltar, Besuch der Krypta und Durchschreiten der heiligen Pforte (Puerte del Perdon/Puerta Santa), welche nur in heiligen Jahren (immer dann, wenn der Jakobstag, der 25. Juli, auf einen Sonntag fällt) geöffnet ist. Gemäss altem Kirchenrecht habe ich damit einen vollständigen Ablass (Befreiung der Sünden) erwirkt. Entweder haben meine bisherigen Sünden nicht allzu schwer gewogen oder aber der Ablass hat bei mir nicht gewirkt. Ich spüre nämlich nur wenig Erleichterung am Ende dieser Prozedur. Man hat auch das Gefühl, dass dieser kollektive instant Ablass der Kirche selber nicht ganz geheuer ist, sind doch die entsprechenden Plakate, die darauf hinweisen, eher bescheiden ausgefallen. Und da kommt mir auch einer meiner Lieblingsverse von Angelus Silesius aus dem "Cherubinischen Wandersmann" in den Sinn:

"Und wäre Christus tausendmal
in Bethlehem geboren,
doch nicht in dir,
du wärest ewiglich verloren."

Man kann Erlösung eben nicht delegieren. Und dennoch ist es ein tröstlicher Gedanke, dass eine Konfession, die sonst mit ihren Schäfchen oft hart ins Gericht geht, hier so freigiebig die Sünden vergibt.

Am Abend gehen wir alle drei gut Essen und Trinken. Wie es unter Pilgern üblich ist, tauschen wir unsere Erfahrungen aus. Auf dem Rückweg, überqueren wir nochmals den Vorplatz der Kathedrale, die wunderschön beleuchtet ist. Nur noch wenige Menschen sind unterwegs. Meine Seele ist zur Ruhe gekommen. Schweren Herzens verabschiede ich mich von den beiden; ich werde sie wohl nie mehr sehen. Buon Camino ihr beiden.

"Solve et coagula" (Löse und binde), die geheime Formel des Alchimisten gilt wohl nie mehr als hier. Sobald dem Pilger etwas ans Herzen gewachsen ist, muss es er sich schon wieder davon lösen.

Link zur Fotogalerie