6. Etappe: Burgos - Fromista
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Sonntag, 16. Mai 2010 - 78 Kilometer
6:14
Heute ist Sonntag, Tag des Herrn. Gemäss Wettervorhersage soll es ab heute mindestens eine Woche schön sein, das passt doch gut. Heute geht es über weite Strecken auf dem Original-Camino weiter. Einerseits freue ich mich darüber, wieder näher bei den Pilgern zu sein. Auf der anderen Seite befürchte ich, dass es mich zu sehr von meiner inneren Reise abbringt. Aber wahrscheinlich ist es wie im richtigen Leben. Inneres und Äussere müssen sich stetig abwechseln. Sonst geht die Spannung verloren.
10:57
Die Sonne hat mich endlich aus meinem seelischen Innenraum herausgelockt. Ich bin ca. 25 Kilometer gefahren, alles auf dem Originalweg. Heute hat es mir einfach zu viele Pilger auf dem Weg. Vor allem die vielen Mountainbiker verpassen dem Ganzen mehr den Charme eines Trails.
Die Landschaft ist wunderschön, sanfte Hügel und ein sattes Grün. Am besten fährt man früh morgens los, dann ist der Wind noch nicht so stark. Der kommt meist so gegen Mittag und prustet sich so gegen Abend zu voller Stärke auf.
17:30
Bin in Fromista angekommen und sitze auf einer Steinbank vor der Kirche San Pedro. Endlich ist der Frühling in Spanien angekommen. Heute konnte ich die Fahrt so richtig geniessen. Bin gut 90 Kilometer gefahren. Wenn man bei solchem Wetter durch die Natur fährt, dann kommt man richtig ins Philosophieren. Ich habe in einem kleinen Dörfchen eine Pause eingelegt und ein Bierchen getrunken. Eine alte deutsche Frau hat mir erzählt, dass sie im Refugio Saturnio übernachtet habe und dass alle Gäste bizarre Träume gehabt hätten; schon wieder dieser Saturn! Saturn, oder Chronos, wie ihn die Griechen nannten, passt ja eigentlich ganz gut zum Camino. Chronos ist der Herrscher über die Zeit und wird oft mit einer Sichel dargestellt. Er schneidet alle ab, was hinter einem ist. Viele Pilger haben mir im Gespräch erzählt, dass sie das Gefühlt für die Zeit auf dem Camino völlig verloren hätten. Schon am Abend weiss man oft nicht mehr, wo man am Morgen aufgebrochen ist. Umso ausgeprägter entwickelt sich dafür das Raumgefühl. Ich habe mal in einem Buch gelesen, dass je näher man Gott kommt, sich Zeit in Raum auflöst. Ich weiss nicht, ob das so ist. Auf dem Camino scheint das aber seine Richtigkeit zu haben. In dem Buch wird weiter behauptet, dass Raum mit Bewusstsein gleichzusetzen ist. Vielleicht ist der heutige Mensch deshalb oft so bewusstlos, weil er immer weniger Raum um sich hat. Eingepfercht im Grossraumbüro, in zu engen Zügen und zu kleinen Wohnung, das kann ja nicht gut gehen.
Ich sitze auf der Bank, bis der letzte Sonnenstrahl hinter den Häuserdächern verschwindet. Allein schon für diesen Moment hätte sich die ganze Plackerei gelohnt!
Höhenprofil der Etappen 6 - 9
